Dass es auch ein englisches Wort für das Schlüsselkind gibt war mir neu, obwohl klar ist, dass das Phänomen dahinter wohl international ist, zumindest in „westlichen“ Gesellschaften. Auch ich gehörte einmal zu den „latchkey kids“.

Klein-Claudi als nicht-Schlüsselkind

Erfahrungen als Schlüsselkind

Als ich im Alter von 14 Monaten so fröhlich und energisch auf dieser Landstraße in der Holtenser Feldmark herumlief, war ich natürlich noch zu klein. (Dieses Bild erscheint mir übrigens heute als Zeugnis von Stärke und kindlichem Urvertrauen, das so wohl nicht wiederkommen wird.)

Erst als ich zur Schule ging, meine Mutter halbtags arbeitete und mein Vater ganztags, musste ich einen Schlüssel mit mir herumtragen und mir selbst die Haustür aufschließen. Meine Mutter, die manchmal nach der Arbeit noch einkaufen ging, ließ dann allerdings nicht mehr lange auf sich warten. Ich weiß auch noch, was für ein Gefühl des Erwachsenseins es für mich war, zum ersten Mal ganz allein die Tür aufzuschließen.

Claudi als stolze Schülerin, die bald zum Schlüsselkind wird
So sah das denn in etwa aus, nur dass beim Aufschließen natürlich normalerweise niemand da war, um mich zu fotografieren ;-).

Das Schlüsselkind als Symbol für Vernachlässigung

Ich erinnere mich dunkel, dass eine Zeitlang von besorgten Soziologen und Psychologen diskutiert wurde, was wohl aus den armen Kindern mal wird, die sich einsam und allein die Tür aufschließen und womöglich sogar selbst das Essen kochen mussten! Den Kindern wurde offenbar rein gar nichts zugetraut, und die Mütter, die arbeiten gingen, waren sowieso „Rabenmütter“. Ein Armutszeugnis, wenn man die deutsche Diskussion mit den Verhältnissen in anderen Ländern (z.B. Frankreich, Großbritannien) vergleicht. Von den Kinderbetreuungsmöglichkeiten und der finanziellen Unterstützung der Kindererziehung z.B. in Frankreich kann man hierzulande ja nur träumen …

Die unermüdliche Wikipedia erinnert an die Entstehung des Begriffs „Schlüsselkind“:

Der Begriff wurde in den fünfziger Jahren von dem Münchner Pädagogen und Psychologen Otto Speck geprägt. Das Wort spielt darauf an, dass solche Kinder damals meist einen eigenen Wohnungsschlüssel hatten, der zudem offen sichtbar an einer Schnur um den Hals baumelte.

Die fehlende Betreuung und Erziehung wurde und wird vielfach als schädlich für die Entwicklung von Kindern angesehen und für Probleme wie schlechte Schulleistungen und jugendliche Delinquenz verantwortlich gemacht. Dahinter steht die Vorstellung, dass die traditionelle Kernfamilie mit nicht-berufstätiger Mutter die optimale Konstellation darstellt. Diese wird teilweise von feministischer Seite als reaktionär kritisiert.

Als Gegenargument wird häufig angeführt, dass Schlüsselkinder über eine größere Selbstständigkeit verfügen würden.

Emotionale Sicherheit bieten statt der Erziehung ausweichen

Die Wikipedia zitiert auch einen Aufsatz eines Psychologen, dessen Thesen mir teilweise einleuchten, wenn auch eher im allgemeinen Sinn als auf die Schlüsselkinder bezogen. Bernd Ahrbeck schreibt, dass sich Eltern heute oft aus der Erziehung zurückziehen, weil sie sich selbst nicht in eine schwierige und als belastend erlebte Position bringen wollen. Wer erzieht, legt sich fest. Das Selbständigkeitsargument lässt er nicht oder nur eingeschränkt gelten:

Ein wichtiges Faktum wird dabei allerdings geflissentlich
übersehen. Es besteht in dem hohen Maß an
Angewiesenheit und Abhängigkeit, das auch die
moderne Kindheit auszeichnet. Wirkliche Autonomie
und Selbstständigkeit setzen, wie die Bindungsforschung
überzeugend gezeigt hat, einen gesicherten
emotionalen Hintergrund voraus. Dazu bedarf es eines
haltenden Rahmens. Er kann sich nur dann entwickeln,
wenn die Erwachsenen kindliche Bedürfnisse
als solche wahrnehmen. Ihre Wünsche nach Nähe und
Schutz, Anleitung und Unterstützung bedürfen eines
emotionalen Echos und einer intensiven Anteilnahme.
Und nicht nur eines distanzierten Beifalls, der sich auf
die äußere Funktionsfähigkeit »selbstständiger« Kinder
bezieht.
(aus Bernd Ahrbeck, „Das Schlüsselkind als Held der neuen Zeit. Über die Verflüchtigung und Wiederbelebung der Erziehungsidee“ in Rehabilitationswissenschaft Heft 1/2004, S. 24-27.)

Ich weiß von einer Psychologin, dass sie solche Eltern, die der Erziehung wie den eigenen Kindern gegenüber entweder hilflos oder distanziert sind, zunehmend in ihrer Praxis erlebt. Diese Entwicklung macht ihr Sorgen. Ob die betroffenen Kinder Schlüsselkinder sind oder nicht, scheint damit aber nichts zu tun zu haben.