Nachdem ich die Stimmung um mich herum immer noch als positiv wahrnehme, fühle ich mich immer mehr in meinen Überlegungen bestätigt. Endlich feiern ohne Reue, so scheinen mir die Fahnen schwenkenden Menschen zu sagen, endlich keine Meldungen über erhöhte Gesundheitskosten oder höhere Steuern, endlich mal Schluss mit den Meldungen über weniger Geld für die einen und Steuererleichterungen für die anderen … schlicht: endlich Grund für gute Laune! Damit tun sich die Deutschen ja offenbar schwer.

Warum gute Laune haben, wenn nicht wegen der WM?

Man könnte sich natürlich auch andere Gründe für gute Laune vorstellen. Indem man etwas tut gegen die beklagte Misere im Land, hätte man gute Laune, weil man sieht: wir tun was, und es geht vorwärts, weil wir viele sind und nicht mehr ignoriert werden können. Doch das ist wohl zu viel verlangt. Geht es bei der WM und der Jubelei einfach um Konsum? Diese WM ist doch hervorragend konsumierbar. Die meisten haben eh keine Karten bekommen (das wäre eher teurer Konsum) und können nun umsonst über die Großleinwände die Spiele sehen und dabei ganz ungewohnte Gemeinschaftsgefühle spüren. Leichte Kost ohne Anstrengung.

Wenn ich schon von unbekannten kleinen Mädchen nach meiner Meinung zu Deutschland befragt werde, muss ich mir endlich auch eine Meinung zulegen. Ich sehe das alles relativ entspannt und habe den Eindruck, die meisten, sogar die WM-Hasser, sehen es ebenfalls relativ entspannt. Es gibt aber Ausnahmen, die bedenkenswert sind. Wie zum Beispiel die Zeitschrift Telepolis, die fast täglich Artikel zu diesem Thema veröffentlicht, jüngst wieder einen besonders eindringlichen, diesmal von Jens Thomas unter dem Titel „Multikultureller Doppelpass auf der Fanmeile„.

Telepolis über eine „Präsentations-WM“ mit unsichtbarem Rassismus

Es geht ihm vor allem um den Umgang mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vor, während und nach der WM. Seiner Auffassung nach ist die WM eine Präsentations-WM, bei der alles, was nicht ins jubelig gespülte Deutschland passt, unter den Tisch gekehrt werden solle. So zum Beispiel der „sicht- und hörbare Rassismus“, dessen Rückgang in den letzten Jahren nicht mit einem Rückgang der zugrunde liegenden Einstellungen einhergegangen sei, sprich: der Rassismus sei immer noch da, nur nicht mehr so sichtbar.

Das Multikulti-Gefühl beim Fußball, das sich unter anderem an den fast zu 50 % ausländisch-stämmigen Spieler der Bundesliga zeige, sei kein gutes Zeichen, sondern ein weiterer Ausdruck der Tatsache, dass hierzulande Ausländer nur nach einer seltsamen Kosten-Nutzen-Rechnung als „Mitbürger“ eingeladen würden. Mit andern Worten: Wer die Tordifferenz Deutschlands verbessert oder dessen IT-Probleme löst, darf kommen, wer „nur“ vor Verfolgung flieht oder ein Leben in Frieden sucht, nicht. Vor allem nicht, wenn er in Konkurrenz zum „Deutschen“ tritt. Das Fazit des Artikels:

Dass nun aber das Einfordern von Etabliertenvorrechten und auch konkurrenzorientierte Fremdenfeindlichkeit in Deutschland seit Jahren ansteigen, wie der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer mit seiner Forschungsreihe „Deutsche Zustände“ zeigt, auch die Kurve rechtsextremer Gewalt nach oben zeigt, gleichzeitig sich aber ganz Deutschland als multikultureller Anspielpartner zum Doppelpass auf der Fanmeile freiläuft, das wirkt doch etwas seltsam. Denn Konkurrenzempfinden und rassistisches Potenzial wird es sicher auch nach dem WM-Abpfiff geben.

Gegenbeispiel: die Patriotismus-Polizei

Ein wie immer bei Telepolis gut recherchierter Artikel, der einen scharfen Blick auf die Verhältnisse wirft, der weniger oberflächlich ist, als man es von anderen Medien gewohnt ist. Zum Beispiel dem Medium, das ja immer meine Meinung bilden will. Die Leute vom Bildblog beschreiben unter dem Titel „Seid patriotisch oder schweigt!“, auf welch plumper Ebene – zum Lachen, wenn es nicht so bitter wäre – die Zeitung jeden WM- oder Patriotismus-Kritiker zum Schweigen bringen will. Und natürlich selbst jeden seit Jahrzehnten verhassten -Ismus, den ich für ein Relikt gehalten hatte, praktiziert. (Besonders bei der Zeile „Ja zur deutschen Frau, die lächelnd zuschaut!“ drehten sich mir Magen, Hirn und Herz gleichzeitig um.) Bevor ich zulasse, dass ein solches Medium in Höchstauflagen das deutsche Volk systematisch verdummt, schaue ich nicht lächelnd zu, sondern werde lieber selbst zur Patriotismus-Kritikerin.

Update vom 23.6.2006:

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