Gerade im Deutschlandfunk gehört: Das Berliner Museum für Naturkunde besitzt 30 Millionen Sammlungsstücke. 30 Millionen! Aber es wird ja nicht nur gesammelt, sondern das Gesammelte wird geordnet, kategorisiert, klassifiziert, in Schubladen gepackt, einer Taxonomie unterworfen.
Woher kommt der Drang, die Dinge in Schubladen zu packen, zu ordnen, zu benennen, Kategorien zu bilden und nach welchen Regeln bilden wir sie? Psychologin Claudia Friedrich von der Universität Hamburg:
„Die Kognitionswissenschaft hat sich irgendwie nicht auf eine Regel festlegen können, wie wir jetzt Gegebenheiten in der realen Welt denn wirklich in solche Kategorien umsetzen, wir wissen nur, wir tun es. Und wir tun es sehr schnell, und solche Kategorien bestimmen unsere Wahrnehmung und unser Denken und unser Gedächtnis, also sozusagen alles, was uns so kognitiv ausmacht und wahrscheinlich deshalb, damit wir diese Welt vorhersagen können, und das war mal evolutionär von großem Vorteil.“
Und weiter:
Schlechtes von Gutem trennen, brauchbare von unbrauchbarer Nahrung unterscheiden, Gefährliches und Ungefährliches durchschauen – Kategorien im Gehirn bilden zu können, um zu überleben ist das eine. Die Anwendung dieser Fähigkeit beim Menschen aber geht weiter:
„Es bestimmt natürlich unsere Kulturpraxis, weil wir mit diesem Apparat unsere Kultur bilden, weil wir mit diesen kognitiven Apparaten alle zusammen wirken und das wahrscheinlich eine der Eigenschaften ist, die wir mitbringen in diese kulturelle Welt: Kategorien zu bilden.“
Schubladendenken oder lebensrettende Ordnung der Welt?
Dass uns das Schubladendenken hilft, unsere Welt zu verstehen, dass wir die Welt kategorisieren, um nicht von der schieren, unüberschaubaren Masse der Dinge erschlagen zu werden, ist ein Gemeinplatz. Die Heckenbraunelle teilt die Insekten in essbare und nahrhafte einerseits und in ungenießbare oder nährwertarme andererseits ein, eine Fähigkeit, die sie zum Überleben braucht. Der Mensch teilt seine Mitmenschen in sympathische und unsympathische ein, sucht Erstere und meidet Letztere. Er ordnet seine Bücher im Regal alphabetisch nach Autor oder systematisch nach Fachgebiet, sortiert „Vorgänge“ in Hängemappen und Dateien in Ordner ein, um nicht den Überblick zu verlieren.
Kategorisierung in der Fotografie
Und die Fotografin: Von kameratechnischen oder objektivkundlichen Kategorien einmal abgesehen, auch die wenig hilfreichen Bindestrich-Fotografien (Makro-, Landschafts-, Porträt-, Sach-, Sport- …) einmal beseite gelassen, ist auch das Sehen vieler Fotografen von Kategorien bestimmt. Die Könige der Kategorisierer sind wohl Bernd und Hilla Becher (mehr Infos zu dem Fotografenpaar hier): Ihre fotografischen Typologien – europäische und nordamerikanische Hochöfen, Kalköfen, Fördertürme, Gasbehälter, Wassertürme oder Kohlebunker – sind legendär. Ich zitiere aus der Beschreibung einer Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen 2004:
Als „Typologie“ bezeichnet das Künstlerpaar solche Werke, in denen Fotografien gleichen Formats zu Blöcken von 9, 12, wie hier 15 oder auch 16 Einzelbildern zusammengefasst sind. Die Objekte werden nach funktionalen, regionalen, strukturellen, historischen und ästhetischen Gesichtspunkten geordnet und zu strengen Tableaus komponiert. Der innere Zusammenhalt solcher Bildfolgen, vor allem aber die Vergleichbarkeit und Lesbarkeit der Objekte wird dabei garantiert durch die Schwarzweißfotografie, ein immer gleich bleibendes Aufnahmeverfahren, und durch die Konzentration auf wenige Konstruktionstypen.
Auch wem eine derartige Akribie fremd ist, der wird sich wiederfinden in dem Drang zur Kategorisierung. Unsere Internet-Galerie sortieren wir in Landschafts-, Porträt- und Reisefotografie, unsere Fotos in Alben oder digitale Ordner …
Ohne Beschränkung, Thema, Projekt … geht nix
Und wenn wir fotografieren gehen, ohne konkretes Ziel? Auf dem Kunstfotografie-Markt kann man heutzutage kaum noch etwas werden ohne ein „Thema“, ein „Projekt“, man beschränkt sich auf eine Kategorie, eine „Schublade“, wenn ihr so wollt, man fotografiert Serien oder eben Typologien – nur den obersten zehn, zwanzig oder hundert Fotografen wird es gelingen, mit 5, 20 oder 45 bezugslos durcheinandergewürfelten Arbeiten eine Ausstellung zu bestreiten. Auch die meisten Fotowettbewerbe setzen ein Thema.
Ausstellung zum Architekturfotografiepreis: Beschränkung als Fokussierung
Gestern gab es in der VHS Stuttgart die Vernissage der Ausstellung zum Europäischen Architekturfotografie-Preis 2007 (mehr Fotos bei architekturbild e.V.). Thema war: „Lieblingsplätze“. Schon die Preisbezeichnung stellt eine Einschränkung der Motivwahl dar (es geht um Architekturfotografie), eine weitere ist das Thema. Die extrem unterschiedlichen Interpretationen der Begriffe „Architektur“ und „Lieblingsplatz“ im Wettbewerb machen deutlich, dass eine Kategorie, die immer eine Sache eingrenzt und anderes ausgrenzt, offenbar immense kreative Energien freisetzt. Eine Beschränkung ist in diesem Fall, und in vielen anderen Fällen, kein Nachteil, sondern ein Vorteil: Beschränkung bedeutet Fokussierung.
Und: Die Teilnehmer des Wettbewerbs legten sich weitere Beschränkungen auf: Mit Architektur soll es zu tun haben, Lieblingsplätze sollen es sein? Gut, ich fotografiere nur eine einzige Kategorie von Lieblingsplätzen: Knastzellen, Ferienhäuser, Dauercamper bei Nacht … Das Ergebnis ist eine unglaubliche Vielfalt an Sichtweisen, Sehweisen, Fokussierungen.
Beschränkung als Mittel der fotografischen Weiterbildung
Weitere Beschränkungen lassen sich denken und werden immer wieder empfohlen, um uns fotografisch voranzubringen:
- Beschränkung auf die manuellen Einstellungen an der Kamera
- Beschränkung auf ein einziges Objektiv
- Beschränkung auf eine einzige Festbrennweite
- Beschränkung auf einen Ort, eine Tageszeit …
Wie steht ihr zur Kategorisierung in der Fotografie? Wenn ihr fotografieren geht, passiert es euch, dass ihr z.B. die Schönheit und Eleganz von Straßenpollern entdeckt und in der fremden Stadt plötzlich nur noch Straßenpoller „seht“, am Ende mit einer Typologie von Straßenpollern nach Hause kommt? Nichts anderes mehr fotografiert, euch plötzlich auf ein Thema, eine „Kategorie“ beschränkt?
Mir ist sowas mal mit stinknormalen Leitungen, Telefonanschlüssen außen an Häusern etc. passiert. Etwa so:
(Mehr davon gibts hier)
Aber eine Typologie ist es nicht geworden. Dafür fehlt mir einfach die pedantische Ader. Dafür hat es mich gelehrt, dass weniger Breite mehr Tiefe bedeutet. Es war eine aufregende Entdeckungsreise. Und bis heute bin ich nicht dahintergekommen, woher genau denn jetzt meine Faszination für diese banalen Objekte rührt.
Ist das dem Menschen offenbar angeborene Denken in Kategorien eine Quelle der Kunst? Ist Sortieren, Kategorisieren, Ordnen der Welt eine Vorausssetzung für Kreativität? Banale Fragen vielleicht, doch sie treiben mich um.
Wie stehts bei euch? Empfindet ihr eine Beschränkung auf einem Gebiet als Chance zur Freiheit und Kreativität auf einem anderen? Welche Beschränkungen erlegt ihr euch beim Fotografieren freiwillig auf? Aus welchen Gründen?