Am besten Schlafmittel nehmen und bei Kälte in den Wald gehen, sich nackt ausziehen und auf den Tod warten. Leider wird’s hier nicht auf Kommando kalt.
(Tagebuch, 19. April 2001)
Solcher Art war die Lakonie des großen Walter Kempowski, der am 5. Oktober gegen 3 Uhr früh 78-jährig gestorben ist. Erst heute bin ich in der Lage, etwas darüber zu schreiben, denn sein Tod hat mich mehr getroffen, als ich für möglich gehalten hätte.
Einer der meistunterschätzten Schriftsteller Deutschlands. Keiner hat wie er unsere Geschichte, unseren Alltag, unsere Alltagsgeschichte mit einer derart – wie soll ich es nennen – „leidenschaftlichen Distanz“ festgehalten. Fest hat er an dem gehalten, was jahrzehntelang verdrängt wurde: die Menschlichkeit des Alltags im unmenschlichen Faschismus (die ersten Bücher der „Deutschen Chronik“) ebenso wie die Unmenschlichkeit des Alltags im menschlichen Sozialismus („Im Block. Ein Haftbericht“, 1969, und „Ein Kapitel für sich“, 1975).
Geflügelte Worte und historische Genauigkeit
Mit den Büchern und Filmen der Deutschen Chronik, vor allem „Tadellöser und Wolff“, „Uns geht’s ja noch Gold“ und „Ein Kapitel für sich“, bin ich aufgewachsen. „Mießnitzdörfer und Jensen“, „Tadellöser und Wolff“, „Daß dich das Mäuslein beißt“, „Das soll meinen Arsch nicht kratzen“: All das waren geflügelte Worte, die meine Schwester und ich uns gegenseitig zuwarfen. Wir begleiteten Walter und Robert durch ihre Jugend im Faschismus, durch staatlich verfolgte Swing-Euphorie und durch die Haft in Bautzen. Die wortgetreuen Verfilmungen von Eberhard Fechner waren uns lebendigere Geschichtsstunden als alles, was uns zum Thema in der Schule geboten wurde.
Wiederentdeckung eines bedeutenden Autors
In den vergangenen zwei, drei Jahren kam ich noch einmal auf Kempowski zurück, etwa seine Romane „Aus großer Zeit“, „Herzlich Willkommen“ und „Hundstage“. Erst jetzt wurde mir seine eigentliche Bedeutung für die deutsche Literatur bewusst. Ich entdeckte die Filme durch die DVD-Ausgaben wieder, sah Interviews mit Kempowski, recherchierte über ihn. Nicht die große Geste war seine Sache, sondern die genaue Beobachtung des Alltags, hyperrealistische Collagen aus Zitaten, Werbesprüchen, kurzen Berichten und Dialogen. Er beherrschte die Kunst, mit knappen Aussagen die ganze Bandbreite und Hintergründigkeit eines Gefühls, einer politischen Einstellung, einer Lebenshaltung wiederzugeben.
Und das in einem Ton, der seinesgleichen sucht. Bis zuletzt behielt er es bei, dieses Hintergründig-Humorvoll-Salomonische:
„Angst vor dem Tod habe ich nicht. Ich fürchte mich nur vor dem Sterben.“
Kempowski war ein Volksdichter im besten Sinne des Wortes. Viele Intellektuelle meiner Generation kennen ihn bis heute nicht. Der Roman, der ihn bekannt machte, „Tadellöser und Wolff“ (1971), hat sich 500.000 mal verkauft. Wer in den 1970er Jahren etwas auf sich hielt, war links, und das hieß leider auch, Opfer und Kritiker der DDR zu verunglimpfen oder gleich totzuschweigen. Kempowski litt zeit seines Lebens darunter, dass er von der Literaturkritik mal nicht wahrgenommen, mal verhöhnt wurde. Sein collagenhafter Stil wurde belächelt, man bezeichnete ihn als „Abschreiber“.
Späte Anerkennung für Gesammeltes: das Echolot
Ironischerweise gewann er späte Anerkennung durch ein Projekt, das im Gegensatz zu den vorhergehenden Büchern tatsächlich keine einzige Zeile von ihm selbst enthält: das „Echolot“. Das zwischen 1993 und 2005 erschienene, mehrbändige Werk ist eine strukturierte Zusammenstellung von Tagebüchern aus den Jahren 1941, 1943 und 1945. An dieses Werk habe ich mich noch nicht herangewagt. Auszüge, die ich gehört oder gelesen habe, verbreiten Schmerz, auch Staunen, auch Lachen, aber vor allem Schmerz. Man sollte es lesen. Es ist unglaublich, wie gegensätzlich und geradezu unvereinbar das war, was Menschen am gleichen Tag, zur gleichen Stunde, an verschiedenen Orten, in den Kriegsjahren niedergeschrieben haben.
Verbitterte, störrische Kämpfernatur
Die letzten Interviews mit Kempowski fand ich traurig, denn seine Bitterkeit über das langjährige Ausbleiben jeglicher Anerkennung etwa durch Literaturpreise oder Goetheinstitute konnte einem schon auf die Nerven gehen. Man war versucht zu sagen: „Jetzt wissen wir’s, Kempowski! Jetzt hör halt mal davon auf!“ Aber er hörte nicht auf. Er war einer, der einfach nicht aufhörte. Vor allem mit dem Sammeln, mit dem Arbeiten. Nur mit dem Leben musste er am Ende doch aufhören.
Er bleibt ein Vorbild. Für Integrität, Genauigkeit und leidenschaftliches Schreiben.
Weblinks für weitere Infos (Leben, Werke, Nachrufe, Quellen) nennt die Wikipedia.