Jetzt läuft die WM ja schon einige Zeit, und ich muss gestehen, dass ich mich von der allgemeinen Begeisterung angesteckt fühle. Mein Verstand meldet sich allerdings gleich zu Wort und wendet ein: Menschen begeistern sich für sinnfreie Aktivitäten besonders, wenn ihr Alltag gerade besonders unschön ist oder sie frustriert sind. Wer sich für die WM begeistert, kann die Probleme des Landes (Arbeitslosigkeit, wachsende Armut, sinkende Fähigkeit der Politiker, die Probleme zu lösen) besonders leicht beiseite schieben. Also Abwendung von der Politik = Hinwendung zur Unterhaltung, oder: Brot und Spiele?

Diese Frage ist umso interessanter, als die Hinwendung zur Unterhaltung auch einen politischen Aspekt hat: Ist Deutsche-Flagge-Schwenken noch Patriotismus oder schon Nationalismus? Zum ersten Mal überhaupt assoziiere ich die vielen Deutschland-Fahnen um mich herum nicht als unnötige Vaterlandsbeweihräucherung, sondern freue mich (!) über dieses Anzeichen von unverkrampfter Unterstützung für die National(!)mannschaft. Früher war es doch so, dass mich die Flagge schwenkenden und jubelnden Brasilianer auf der Straße bloß amüsierten, während Flagge schwenkende Deutsche meine Fluchtinstinkte weckten. Ich maß also mit zweierlei Maß. Ein unangenehmer, aber nach meiner bisherigen Einschätzung notwendiger Zustand.

Heute kann ich die Begeisterung der Deutschen auf einer ähnlichen Ebene wahrnehmen wie die der anderen Nationen, und es macht mir Spaß, mir das eine oder andere Spiel via „public viewing“ auf der Großleinwand an der Filmakademie anzuschauen. Das waren bisher allerdings nur Spiele, an denen Deutschland nicht beteiligt war. Beim Spiel gegen Polen fuhr ich mit dem Rad an dem Areal vorbei, wo mir an der Straßenecke gleich eine Horde Halbwüchsiger in voller Beflaggung begegnete und mir Parolen entgegenbrüllte. Hier kam sofort der Fluchtinstinkt zurück.

Die Frage nach dem Nationalismus verschiebt sich also von „Wer brüllt und flaggt – Deutsche oder Nichtdeutsche?“ zu „Wer brüllt und flaggt – bedrohlich tumbe Typen oder harmlose Fans?“. Eine überfällig Zurechtrückung der Perspektive, wenn ihr mich fragt. Oder wie seht ihr das?