In den Zeiten von Internet, Web 2.0 und so weiter vergisst mancher leicht, dass Lesen auf Papier, ganz ohne Strom, viel gemütlicher und beruhigender ist als das doch immer irgendwie flüchtige Scannen von Seiten im Internet. Ich drucke mir darum gerne interessante Fundstücke aus dem Netz aus und lese sie auf dem Weg ins Büro in der S-Bahn, auf dem Klo oder ganz klassisch im Sessel, mit Stehlampe, Tee und Keksen nebendran. Das Ganze geht natürlich noch viel besser mit Zeitschriften, denn man kann viel besser blättern, hat keine losen Seiten, und sie sind auch noch aus einem Guss. Wenn sie gut sind.

Unter den Zeitschriften gibt es so manch unscheinbares Gewächs, das von vielen gelesen und geschätzt wird, aber nicht so richtig als beeindruckende Quelle à la „Hab ich im SP…GEL gelesen“ zu taugen scheint, einfach weil es niemanden beeindruckt, bekennender Zeitschriften-Mauerblümchen-Leser zu sein. Eines dieser Zeitschriften-Mauerblümchen ist die „Chrismon“.

Chrismon: kurz vorgestellt

Die „Chrismon“ erscheint in monatlichem Rhythmus als Beilage in der ZEIT, der Frankfurter Rundschau, der Sächsischen Zeitung, der Süddeutschen und im Tagesspiegel mit den Potsdamer Neuesten Nachrichten. Sie ist ein evangelisches Magazin und wird vom Landesbschiof Dr. Johannes Friedrich, dem MdB Hermann Gröhe, Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber und Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann herausgegeben. Du liebe Güte, ist man versucht zu sagen, und so eine Zeitschrift soll interessant oder gar spannend sein?

Themen: Aus dem Leben gegriffen

Genau das ist sie aber. In der Chrismon werden Themen verhandelt, die teils in engerem, oft aber in sehr weit gefasstem Sinn mit Religion zu tun haben. Oft genug geht es einfach um das Leben und die Menschen, um das Leben der Menschen. Themen, die nachdenklich machen, die man in anderen Medien nur sporadisch findet, die eher zur Aufmerksamkeit für sich selbst und andere „erziehen“ als ausdrücklich zum Glauben.

Plädoyer für Kaffeepausen

Die aktuelle Ausgabe zum Beispiel titel mit dem Beitrag „Bin gleich zurück“. Teaser:

Sendepause. Sonntagsruhe. Siesta. Solche festen Auszeiten sterben langsam aus, denn wir sind immer online. Der moderne Mensch muss sie selber setzen: die Pause.

Der Artikel von Ursula Ott fällt nun nicht etwa mit der Tür des dritten Gebots ins Haus („Du sollst den Feiertag heiligen“), sondern geht zunächst darauf ein, dass und warum die Finnen das deutsche Wort „Kaffeepause“ in ihre Sprache übernommen haben. Das Wort sei ausgewandert, und mit dem Wort schleiche sich auch gleich „die ganze Pause davon“. Nach einer kurzweiligen Erörterung der Pausenkultur in Finnland geht es ganz handfest mit der Geschichte der Pause als gewerkschaftliche Errungenschaft weiter. Und die Folgen der beschönigend so genannten „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit für das moderne Leben werden erörtert. Am Schluss des Artikels steht das neue Wort für die „neue Freiheit“: die „Zeitsouveränität“. Und in klassischer Reportagetechnik schlägt die Autorin einen Bogen zum Anfang:

Hallo Finnland, nur mal vorsorglich: die „Zeitsouveränität“, die bleibt aber hier in Deutschland. Wir suchen nur noch ein schöneres Wort dafür.

Natürlich wird das Wertesystem der Autorin in diesem Artikel, werden die Werte der Zeitung in der Zeitschrift nicht unterschlagen. Aber der moralische Zeigefinger fehlt völlig. Am Ende des Pausen-Artikels findet sich ein lediglich Link zu der Aktion „7 Wochen ohne„, die jährlich wiederkehrende Fastenaktion der Evangelischen Kirche, die 2007 unter dem Motto „Atempause“ steht. Dem Link kann die Leserin folgen oder auch nicht.

Nachdenkliches mit Tiefgang

Der Artikel ist nicht unbedingt eines der Glanzlichter im Chrismon, stellt innerhalb des hohen Niveaus der Zeitschrift guten Durchschnitt dar. Noch besser gefallen mir Geschichten von Menschen, die etwas Besonderes tun oder besondere Erfahrungen gemacht haben – Geschichten, die in „gewöhnlichen“ Tages- oder Wochenzeitungen unter der Rubrik „Leben“ oder „Modernes Leben“ erscheinen würden. In der Chrismon haben solche Texte, wie mir scheint, noch ein kleines Quentchen mehr Tiefgang.

In der aktuellen Ausgabe ist dies die Reportage mit dem Titel „Tilmanns Welt“ über einen Schulverweigerer, seine Eltern in einer vorpommerschen Landkommune, und über Tilmanns Werdegang nach seiner Entscheidung, nicht mehr zur Schule zu gehen, die er im Alter von neun Jahren traf.

Müdes Redaktionsblog

Neben den großen Artikeln gibt es in der Chrismon noch „beilagenübliche“ Bestandteile wie Kommentare des Chefredakteurs, Umfragen, Interviews und Leserbriefe. Im Online-Auftritt der Zeitschrift kann man ausgewählte Artikel nachlesen, und es gibt sogar Blogs, die mich aber nicht so überzeugen. Hier könnte noch mehr getan werden. Die Leserschaft der Chrismon mag nicht gerade die internet-affinste sein. Aber um ein Blog zum Leben zu erwecken, muss man etwas mehr Aufwand treiben …

Prädikat: empfehlenswert

Fazit: Eine moderne Zeitschrift mit modernen Themen ohne moralischen Zeigefinger – hohes journalistisches Niveau. Hier werden keine Patentrezepte für Weltprobleme angeboten, sondern Fragen gestellt, die innehalten lassen. Prädikat: empfehlenswert!

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