Der Zufall ließ mir heute zwei Artikel ins digitale Haus flattern, die sich aus unterschiedlicher Perspektive mit dem Web 2.0 befassen:

In der telepolis schreibt Rudolf Maresch unter dem Titel „Die Bühnen des Mobs und der Wichtigtuer: Die digitale Revolution entlässt ihre Kinder ins Mitmach-Web“ eine pessimistische Litanei über die Illusionen, die sich viele Befürworter des „neuen“ Internets über dessen angebliche Wirkungen wie Demokratisierung, Kreativität, kollektive Intelligenz usw. machen. Besonders abschätzig lässt er sich über die Menschen aus, die sich in diesem Netz tummeln:

„… vor allem auch Besserwissern, Wichtigtuern oder Paranoikern, die sich im normal life intellektuell verkannt, sozial missachtet fühlen oder einfach viel Zeit haben, bietet das Web 2.0 ein überaus reichhaltiges Angebot, ihren Neigungen rund um die Uhr nachzugehen. […] Im Mitmach-Web bekommen sie jenen sozialen Kredit oder können jenes soziale Kapital anhäufen, das sie im Alltagsleben vermissen oder das ihnen aus welchen Gründen auch immer von Kollegen, Freunden oder Bekannten vorenthalten wird.“

Hier scheint das alte Vorurteil vom dickbebrillten, übergewichtigen „Nerd“ durch, der Tag und Nacht vor der PC-Glotze hockt und alle sozialen Kontakte für seine Netzsucht geopfert hat. Erkennt ihr euch wieder? Ich nicht.

Blogs und Foren: heute nur noch vom Mob beherrscht?

Gerade mal „Graswurzelphänomen“ der Blogs in Ländern, aus denen aufgrund missachteter Meinungsfreiheit auf anderem Wege keine inoffiziellen Informationen zu haben sind, lässt der Autor als „eminent wichtig“ gelten, nicht ohne im nächten Atemzug ihre Zuverlässigkeit anzuzweifeln. Am schlimmsten findet er allerdings den „virtuellen Hooliganismus“, der sich in Blogs und Foren seiner Ansicht nach in Foren und Blogs verbreitet hat: „Der Umgangston ist rüde, der Stil verroht und versaut.“ Man fragt sich, in welchen Foren und Blogs der Autor verkehrt … Man kennt natürlich völlig fruchtlose, nervige Pöbeleien in Foren, aber bisher habe ich es immer so erlebt, dass entweder die anderen Mitglieder oder der Moderator hier Abhilfe schaffen konnten.

Kleine, aber feine Diskussionen, die der Autor von früher in Erinnerung hat, ergänzt von wertvollen Statements kundiger Experten, sucht man heute angeblich vergeblich. Das ist aber gerade das, was mich am heutigen Internet so fasziniert: In einschlägigen Foren oder Blogs zu bestimmten Themen findet man garantiert immer jemanden, der einem mit einer speziellen Frage weiterhelfen kann. Und wo gemobbt wird, gehe ich wieder und suche mir ein besseres Forum.

Anonymität im Netz: Gift für den Umgangston?

Warum nicht einfach festlegen, dass alle im Netz mit ihrem richtigen Namen unterzeichnen müssen? Man würde mit dieser Anti-Mob-Maßnahme auch die positiven Seiten des Web 2.0 gleich mit beseitigen. Einerseits. Andererseits: In den Blogs und Foren, die ich besuche, zeichnen die meisten mit ihrem Klarnamen, und wenn nicht, lässt er sich auf ihren Webseiten leicht finden. Wo ist das Problem? Ich muss mich ebensowenig in Pöbelforen herumtreiben, wie ich gezwungen bin, Gerichtsshows im Nachmittagsfernsehen anzugucken.

Tim O’Reilly: Wie das Leben, so spielt das Netz

Interessanter Gegenpart dafür ist ein Interview mit Tim O’Reilly in der Berliner Zeitung vom letzten Samstag (via Spreeblick). Er sieht die ganze Angelegenheit etwas entspannter. Zu dem Eindruck, dass z.B. bei Flickr oder YouTube viel Schrott getauscht werde, zitiert er das „Sturgeon’s Law“: 95 % von allem ist Schrott. Also sind auch 95 % des Web 2.0 Schrott. Auf die restlichen 5 Prozent kommt es an.

Dass sich viele Illusionen über die demokratiefördernde Wirkung des neuen Internets machen, meint er auch. Aber: wie im Leben, so im Internet: Monopole setzen sich durch, Machtspiele werden ausgetragen, im Online-Rollenspiel „World of Warcraft“ erarbeiten moderne Sklaven in China Gegenstände für reiche Amerikaner.

Web 2.0: eine neue künstliche Intelligenz?

Aber auch: „eine neue Stufe im Verhältnis zwischen Mensch und Computer“ entstehe allein dadurch, dass eine Menge Daten über das menschliche Verhalten schon ins System eingebaut seien. O’Reilly entwirft eine Vision, in der die Abgrenzung von virtuell und real verschwinden wird, zum Beispiel bei dreidimensionalen Druckern, die einfache Plastikgegenstände nach einem digitalen Modell auswerfen können.

Eine Vision, die mich weniger interessiert, als mit den 5 % nicht-schrottigen Mitdigitalisten über Gott und die Welt zu diskutieren. Hier und dort, überall. Dem Pöbel weiche ich aus, ich suche mir aus, was mir zusagt. Die 95 % Schrott: einfach totschweigen.

Oder?